Blogbeitrag von Elisabeth Widmer, Co-Präsidentin SAJV

 

Zur Inspiration für einen Text zum 1. August habe ich die früheren Reden der Bundespräsidentinnen und -präsidenten durchforstet. Bei der Rede von Alt-Bundesrat Adolf Ogi im Jahr 2000 stiess ich auf die Worte ‚für eine offene und solidarische Schweiz’, welche zwar geschrieben stehen aber nicht ausgesprochen wurden. Dies brachte mich auf die Idee, diese Thematik in den Reden genauer zu betrachten und dazu einen Text zu verfassen. Der Blog ist etwas länger ausgefallen als üblich da er, gespickt mit Zitaten aus früheren Reden, ein Denkanstoss sein soll, wie man den Nationalfeiertag auch als eine offene und solidarische Feier sehen kann.

Alt-Bundesrat Adolf Ogi erklärt in derselben Rede, dass am 1. August der Geburtstag der Heimat gefeiert werde und dass er mit der Heimat den Ort verbinde, an dem er mit Familie und Freunden feiern könne und sich verstanden fühle. Er nimmt auch Bezug auf die Tatsache, dass zu den vier Landeskulturen weitere Kulturen und Sprachen dazu gekommen seien und die Schweiz somit kulturell vielfältiger geworden sei. Auch der Alltag in der Schweiz sei farbiger, bereichernder, herausfordernd und spannend geworden.

Als Gesellschaft auf diese Veränderungen zu reagieren ist nicht immer nur einfach. Denn eine Gesellschaft ist ein lebendiges Kollektiv, bestehend aus Individuen, mit eigenen Lebensgeschichten, eigenen Ansichten und eigenen Bedürfnissen. Gleichzeitig ist die Gesellschaft aber umgeben von Rahmenbedingungen in Form von Gesetzen, Ritualen und Werten, welche für alle gelten und eine Bedeutung haben. Diese Rahmenbedingungen, Rituale und Werte sind in der Vergangenheit entstanden, werden in der Gegenwart gelebt und sind somit auch weisend für die Zukunft.

Eines dieser Rituale ist der Nationalfeiertag. Dieser Feiertag basiert auf einer Idee – einem von Menschen geschaffenen Konstrukt. Dies gilt sogar in zweierlei Hinsicht: zum einen in Bezug auf die Idee eines Feiertags und zum anderen in Bezug auf die Idee der Nation. Denn nicht jede Nation hat einen offiziellen Nationalfeiertag. Auch in der Schweiz ist der 1. August ab 1891 langsam als Ritual herangewachsen und erst seit 1994 ein gesetzlicher Feiertag. Was die Nation betrifft, stellt sich die Frage, was damit gemeint ist – die Grenzen, die Kultur, die gemeinsamen Werte? Sie alle basieren auf von Menschen gemachten Begebenheiten.

Auf einer Landkarte ist es nicht schwierig zu erkennen, wo die Schweiz aufhört und wo das Ausland beginnt. Vor Ort ist es jedoch schon einiges schwieriger zu erkennen, ob man jetzt noch in der Schweiz oder bereits im Nachbarland ist. Haben die Grenzregionen um den Bodensee unter Umständen kulturell gesehen nicht grössere Gemeinsamkeiten mit den Nachbarregionen in Deutschland oder Österreich als zum Beispiel mit der Region am Genfersee?

Was die Schweiz ausmacht, ist der Föderalismus, welcher ermöglicht, dass die Schweiz Einigkeit in der Vielfalt lebt. Diese grosse kulturelle Vielfalt, die lokalen und regionalen Traditionen, die Vielsprachigkeit – dies sind die grossen Stärken der Schweiz. Oder wie es Alt-Bundesrat Kaspar Villiger formulierte: Die Schweiz ist mehr als die Summe ihrer Kulturen. Die heutige Schweiz basiert auf der historisch gewachsenen Zusammenarbeit und der Konsenskultur unter den Kantonen. Die direkte Demokratie setzt den Willen zur Zusammenarbeit voraus – eine Aussage von Alt-Bundesrat Otto Stich – hat auch heute noch eine starke Bedeutung. Denn die Zusammenarbeit basiert nur zum Teil auf einer gemeinsamen Kultur aber sehr wohl auf gemeinsamen Werten – Demokratie und Freiheit.

Alt-Bundesrat Arnold Koller wies 1990 auf die Tatsache hin, dass die Schweiz jeweils dann stark gewesen sei, wenn sie sich solidarisch zeige. In der Präambel der Bundesverfassung steht, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst. Dies ist Ausdruck des gemeinsamen Wertes der Solidarität. Wie Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss 1999 sagte, sei im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine solidarische Gesellschaft geschaffen worden, welche für alle ein sozialer Fortschritt bedeutet. Dieser Fortschritt ermöglichte mehr Freiheiten für viele – Frauen, RentnerInnen, Arbeitslose.

Während die Landesgrenzen festgelegt sind, die unterschiedlichen Kulturen dank Traditionen und Bräuchen gelebt werden, verändert die Gesellschaft als Kollektiv die Freiheiten der Individuen passend zu neu entstandenen Bedürfnissen und Begebenheiten. Dies geschieht dank des Föderalismus und der direkten Demokratie, welche aus den Herausforderungen entstanden sind, Einigkeit in der Vielfalt gemeinsam ausleben zu können. Diese Gemeinschaft basiert auf dem Bürgerrecht, dem Recht aktiv politisch partizipieren zu können.

Dieses Recht ist ein hohes Gut, denn es ist vieles gleichzeitig. Es ist die Freiheit und die Möglichkeit, gemeinsam die Politik des Landes bestimmen zu können, wie Alt-Bundesrat Willi Ritschard sagte. Es ist die Möglichkeit, die Stimmung im Land mitzubestimmen und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Alt-Bundesrat Pascal Couchepin wies in seiner 1. August-Rede 2003 darauf hin, dass jede Generation das Schweizersein neu erfinden müsse um damit auf ihre Weise an einer nun schon über 700-jährigen Geschichte weiterzuschreiben. Somit bedeutet das Stimmrecht auch eine grosse Verantwortung. Man stimmt nicht bloss für die Gegenwart ab, sondern auch für die folgenden Generationen, für die Kinder und Jugendlichen, die ihr Stimmrecht noch nicht ausüben können.

Man stimmt aber auch ab, für den Teil der Bevölkerung, der kein Stimmrecht hat. Alt-Bundesrat Koller wies 1990 auf die solidarische Zusammengehörigkeit und die gemeinsame Freiheit hin. Er ermahnte die Bevölkerung daran zu denken, dass was bisher erarbeitet worden sei, neben der eigenen Tüchtigkeit auch anderen Menschen, Kulturen und Ländern zu verdanken sei. Im Jahr 2001 begrüsste Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger zum ersten Mal ausdrücklich auch alle Ausländerinnen und Ausländer bei seiner 1. August-Rede. Er wies darauf hin, dass es für alle von Bedeutung ist, eine Heimat zu haben und dass niemand das Anrecht, die Schweiz zu lieben, für sich gepachtet habe. Alt-Bundesrat Joseph Deiss ging 2004 noch einen Schritt weiter und erklärte, dass die Schweiz sich immer dadurch ausgezeichnet habe, dass die Menschen, die hier leben, sich aktiv und mit Herzblut für das Land eingesetzt hätten. Was jeder und jede von uns in seinem Innern für seine Heimat empfindet sei entscheidend und nicht der Umstand, ob der Grossvater bereits Bürger des Landes gewesen sei.

Heimat sei weit mehr als Geschichte, Grenzen oder das politische System, wie Alt-Bundesrat Willi Ritschard sagte. Heimat, sei dort wo man sich persönlich zugehörig fühle, wo man Familie und Freunde habe, dort wo man sich auf die Gemeinschaft verlassen könne. Solidarität ist somit nicht an ein Bürgerrecht gekoppelt, sondern an eine Wertegemeinschaft. Und es ist diese Wertegemeinschaft, das gemeinsame Verständnis von Freiheit, Heimat und Solidarität, welche alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz teilen; nicht nur die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger.

Mein grosser Wunsch wäre es, dass der Geburtstag unserer gemeinsamen Heimat von allen gefeiert wird und die Nationalität nicht ausschlaggebend ist. Indem man alle zur Geburtstagfeier einlädt, zeigt man nicht bloss Solidarität, sondern man schafft gemeinsame Rituale, man feiert gemeinsam die Errungenschaften der Schweiz und man zeigt auf, dass diese Werte für alle gelten – auch für die zukünftigen Schweizer und Schweizerinnen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen einen schönen 1. August.

Es lebe eine offene und solidarische Schweiz

 

 

Sämtliche Zitate der Alt-Bundesräte und der Alt-Bundesrätin stammen von folgender Webseite: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/reden/ansprachen-zum-nationalfeiertag.html